Auf einer website mit Tipps für die Durchführung von Retrospektiven (in agilen Teams, hier: Scrum) waren unter der Überschrift

„Auf was für Probleme könntest Du vielleicht stoßen? (Und wie überwindet man sie?)“

(sic!)

ein paar Schwierigkeiten aufgelistet. Gleich an zweiter Stelle stand dort: „Emotionen“

photo courtesy of Tengyart – found on unsplash.com

Emotionen als Problem. Und, als ob das nicht schon genug wäre, werden dann in nur 3 Sätzen Emotionen als DER Grund dafür abgehandelt, dass wir Menschen nicht perfekt sind. Nach dem Motto: „Unser gemeinsamer, großer Makel: Emotionen.“

Jetzt kann ich die Intention des Autors natürlich gut nachvollziehen. So, wie agile Methoden in vielen Unternehmen praktiziert werden, ist schlichtweg keine Zeit für ein Abschweifen von der agilen Routine. Abgesehen davon gelten Emotionen in agilen wie in nicht-agilen settings immer noch als hinderlich, unangenehm oder gar unprofessionell. Und die wenigsten Scrum-Master, Teamleiter oder Mitarbeiter fühlen sich wohl bei dem Gedanken, Emotionen im Team zuzulassen oder gar, sie zu thematisieren.

Ich weiß natürlich auch, dass eine Retrospektive nicht der Ort für eine gründliche Aufarbeitung von Emotionen ist, sondern eigentlich Gelegenheit für aufgeräumte, nüchterne, an der Sache orientierte Beiträge von ebenso denkenden (und handelnden) Teammitgliedern sein möchte.

Letztlich gibt es aber Gedanken nicht ohne Emotionen – das macht uns als Menschen eben auch aus.

Die Grundlage für den Umgang mit Emotionen – den eigenen wie auch den von anderen Personen – ist unsere Wahrnehmung. Gleichzeitig ist das häufig schon die erste Hürde. Wir werden förmlich dazu erzogen und sozialisiert, Emotionen zu unterdrücken oder erst gar nicht ins Bewusstsein zu lassen („Ein Indianer kennt keinen Schmerz“). Es braucht also eine gelebte Erlaubnis, Emotionen zu zeigen oder anzusprechen. Führungskräfte sind dafür Vorbild und Ermöglicher. Sie sind es, die vorleben, wie Emotionen zur Sprache gebracht werden können und wie Mensch mit ihnen umgehen kann.

Dafür benötigen sie die Fähigkeit zur Empathie und einen achtsamen Umgang mit sich selbst. Wer Emotionen wahrnehmen kann, wird in sozialer Interaktion anders handeln. Bewusster und angemessener.

Routinen für den Umgang mit Emotionen lassen sich erlernen und entfalten vom ersten Moment an Wirkung:

1. Umgang mit den Emotionen anderer:

Atmen: Bleib bei Dir und achte auf Deine eigene Wahrnehmung und Deine eigenen Gefühle. Atme und entschleunige die Situation.

Zulassen: Manchmal nehmen wir Emotionen bei unserer Gegenüber wahr, übergehen diese aber, solange sie selbst diese nicht anspricht. Häufig sind fehlgeleitete Erwartungen der Grund dafür. Wir gehen schlichtweg davon aus, dass es nicht angebracht ist, Emotionen zu äußern und der oder die andere erwarten würden, dass wir unsere Emotionen nicht zeigen und schon gar nicht ansprechen. Dann kann es hilfreich sein, durch einen Nebensatz oder eine einfühlsame Bemerkung den Boden zu bereiten, dass Emotionen ins Spiel kommen dürfen (und nicht vom Spielfeldrand das Geschehen torpedieren).

Emotionen an sich sind nicht problematisch. Kontrolliere nicht die Emotionen, sondern – wenn überhaupt – das Verhalten der Person. Belasse die Verantwortung für die Emotionen bei der anderen Person. Setze bewusst einen Rahmen für Emotionen und Grenzen für das anschließende Verhalten (wenn das nötig erscheint).

Adressieren: Benenne, was im Raum wahrnehmbar ist. Verbalisiere die Emotionen der anderen oder Deine eigenen. Was einen Namen hat, kann be- und verarbeitet werden.

Nachfragen: Frage die Person, was sie jetzt braucht. Sei nicht vorschnell mit Beschwichtigungen („Ist doch alles gar nicht schlimm.“), Tröstung, Schlussfolgerungen oder Aktionismus. Lasse die andere Person äußern, was sie braucht und entscheidet gemeinsam, wie Ihr weitermachen wollt.

Strukturen und Prozesse verändern: Eine lebendige Retrospektiven-Kultur ist wichtig für die Motivation und gleichzeitig die Produktivität des Teams. Emotionen sind ein wichtiger Indikator dafür, was gut und was weniger gut läuft. Kommt die soziale Ebene der Beziehungen im Team zu kurz (z.B. wenn jegliche Interaktion von fachlichen Themen beherrscht wird und unter dem Diktat der Produktivität jegliche menschliche Regung verbannt wird), wird sich das über kurz oder lang bemerkbar machen. Dann ist es an der Zeit, der Beziehungsebene mehr Gewicht zu geben. Dafür kannst Du eine Menge tun: in informellen Treffen an der Kaffeemaschine (virtuell: im eigens dafür eingerichteten virtuellen Raum) lassen sich persönliche Themen besser besprechen, das Team könnte in einem off-site eine Pause vom Alltagsstress nehmen und Beziehungen stärken, eine Teamentwicklung könnte anstehen…

2. Umgang mit den eigenen Emotionen:

Wahrnehmen: Übe, eigene Emotionen wahrzunehmen. Ein möglicher Weg dahin ist das Training der Körperwahrnehmung. Body-scans sind gute Übungen dafür.

Benennen: Die eigenen Emotionen zu benennen (das muss nicht laut ausgesprochen werden, ein bewusst gefasster Gedanke reicht bereits) hilft, Energie in den präfrontalen Kortex zu leiten und aus musterhaftem Verhalten (z.B. Eskalation oder auch Flucht) herauszufinden.

Neubewertung: Emotionen sind Veränderungen (auch) auf körperlicher Ebene und haben – evolutionär gesehen – ihren Sinn darin gehabt, uns Menschen zu einer Reaktion zu verhelfen. Wut beispielsweise stellt Energie bereit. Energie, die wir häufig auch körperlich spüren (das Herz schlägt schneller oder heftiger, wir ballen die Fäuste, kneifen die Augen zusammen, etc.). Diese Energie gilt es anzuerkennen und einen Weg zu finden, sie abzubauen oder zu nutzen. Den Gegenüber anzuschreien ist ein möglicher Weg, allerdings nicht ratsam. Besser wäre es, die Situation zu thematisieren („Ich merke gerade, dass ich ärgerlich werde. Ich hätte gern etwas Zeit, mir bewusst zu werden, woher das kommt und wie ich weitermachen will. Lassen Sie uns an dieser Stelle auseinander gehen. Ich melde mich morgen bei Ihnen um einen Termin für eine Fortsetzung unseres Gesprächs zu vereinbaren.“).

Ebenen-Wechsel: Wechsle in diejenige ICH-Instanz, die übergeordnet das Bewusstsein steuert und damit Einfluss nimmt auf Dein Verhalten und Erleben. Das ist weniger esoterisch als es klingt: Indem Du achtsam mit Deinen Emotionen umgehst (s.o.) und Dir Deiner Möglichkeiten bewusst wirst, tust Du genau das. Meditation ist ein beliebter und effektiver Weg, diese „ICH-Instanz“ auszubilden und achtsamer mit sich selbst und anderen umzugehen.

Lernen: Indem Du diese Situationen bewusst reflektierst, bereitst Du den Boden für eine Veränderung Deines Erlebens und Verhaltens in zukünftigen, ähnlichen Situationen.

Zugegeben:

Das klingt leichter gesagt als getan. Und gerade deshalb ist es oft ein wichtiger Prozess für und in Teams, mit Emotionen umgehen zu lernen. Auch hier geht es nicht darum, etwas perfekt zu machen, sondern den Prozess anzustoßen und in kleinen Schritten („iterativ“) den Umgang mit Emotionen in den Alltag zu bringen.

Deine Teammitglieder und KollegInnen werden es Dir danken.