Ed Schein, Urgestein der Organisationsentwicklung und Prozessbegleitung, legt zusammen mit seinem Sohn Peter Schein das dritte Buch vor, das die „Demut“ im Titel trägt – nach „Humble Inquiry“ (2013) und „Humble Consulting“(2016) jetzt also „Humble Leadership“.

Sie nehmen darin die Beziehung zwischen Führungskraft und Geführten („leader“ und „follower“) in den Fokus. Auf knapp 150 Seiten veranschaulichen sie ihre Idee der „Humble Leadership“ vor allem mit Hilfe ausführlicher Erfahrungsberichte aus der Praxis. Und da schöpfen sie aus dem vollen. Ob Regierungen, Wirtschaftsunternehmen, Militär, Krankenhäuser, NGOs – Ed Schein hat sie alle beraten oder weiß deren Geschichte zu erzählen. Das Buch gewinnt auch und vor allem durch die anschaulichen und eindrucksvoll geschilderten Falldarstellungen.

Demut als Schlüsseltugend

Humble Leadership als Konzept wird auf wenigen Seiten im ersten Kapitel erklärt. „Demut“ wird zur Schlüsseltugend für Führung in einer von permanentem Wandel und gegenseitiger Abhängigkeit geprägten, immer komplexer werdenden Welt (-> VUKA). Das Maschinenmodell von Organisationen, das Helden als Führungsfiguren eine Bühne bot, erklären sie für überholt und dem Untergang geweiht. Veränderungen wie globale Vernetzung, Multikulturalismus, Geschwindigkeit techn. Innovationen, Klimawandel, etc. erfordern den Autoren nach eine Form von Zusammenarbeit, die auf Vertrauen und Offenheit in persönlichen Beziehungen basiert. Diese Beziehungen nennen sie „Ebene-2-Beziehungen“.

Beziehungen kategorisieren die Autoren ihrer Qualität nach in 4 Ebenen:

Ausschlaggebendes Kriterium für die Unterscheidung der Ebenen ist der Grad an „Personisierung“. Darunter verstehen die Autoren den Prozess des Beziehungsaufbaus unter Berücksichtigung des ganzen Menschen – nicht nur seiner Rolle (z.B. im organisationalen Geschehen). Personisierung verstehen sie als „intrinsisch motivierten, wechselseitigen interaktiven Prozess“.

Diese Form der Beziehung soll Offenheit und Vertrauen herstellen, die wiederum nötig sind, um z.B. im Organisationskontext Fehler zugeben zu können, Widerspruch äußern zu können oder um Hilfe bitten zu können.

Interessanter Aspekt dabei: Personisierung bedeutet nicht, Freundlichkeit zu maximieren. So beschreiben die Autoren am Beispiel des Staates Singapur, wie der dortige Anführer, der durchaus auch diktatorische Züge hatte, auf offene und vertrauensbasierte Beziehungen setzte und diese erfolgreich als Mittel in der gesamten Staatsverwaltung einführte. Den Erfolg Singapurs (insb. in wirtschaftlicher Hinsicht) führen die Autoren u.a. auf diese „Ebene-2-Beziehungen“ zurück.

Ebene-2-Beziehungen für eine gelungene Führungsbeziehung

Humble Leadership bedeutet, Beziehungen mindestens in Ebene-2-Beziehungen zu transformieren. In ausgewählten Bereichen und abgegrenzten Situationen kann auch im Berufsleben eine Ebene-3-Beziehung entstehen oder sinnvoll sein. Als Beispiel nennen die Autoren Teams, deren Mitglieder hochgradig von einander abhängig sind (z.B. Sondereinsatzkommandos im Militär).

Die Notwendigkeit einer Veränderung hin zu einer Beziehungsbasierten Führung begründen die Autoren mit den vielfältigen, schnellen und unberechenbaren Veränderungen, denen sich Organisationen gegenüber sehen. Wie sich Führung auch in Zukunft weiterentwickeln muss, beschreiben sie in 6 Thesen, die weitere Facetten der „Humble Leadership“ beleuchten – vom Umgang mit künstlicher Intelligenz (KI), über den Einfluss von Diversität auf Führung bis zu virtueller Führung.

Kennzeichen der „Humble Leadership“ ist ausserdem der Fokus auf Gruppendynamik und –prozesse sowie gemeinsames Lernen als Katalysator für die Entstehung und Pflege von „Ebene-2-Beziehungen“. Dafür liefern die Autoren am Ende des Buches einen Arbeitsplan zur „Personisierung“, also der Gestaltung von „Ebene-2-Beziehungen“.

Megatrends und absehbare Veränderungen erfordern eine andere Führung

Führung ist seit jeher kritisches Moment in Organisationen. Viele Theorien und Modelle liefern Erklärungs- und Typisierungsansätze. Die Autoren wollen praxisorientiert und erfahrungsbasiert erklären, wie Führung sich verändern muss, wenn sie Organisationen für diejenigen Herausforderungen fit machen will, die als „Megatrends“ unsere nahe Zukunft gestalten werden. Mit dem Fokus auf die Beziehung zwischen Führungskräften und Geführten, die durch eine Transformation zu einer Beziehung zwischen Führenden werden soll, liefern sie einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Diskussionen rund um agile Organisationsentwicklung, die häufig zu schnell und zu einseitig auf Strukturen, Methoden und Tools fokussiert und für den Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehungen in Organisationen wenig (neue) Erkenntnisse und Praktiken bereit hält.

Das Buch ist dennoch mehr Plädoyer als wissenschaftlich begründete Theorie.

So anschaulich die Praxisbeispiele sind, so unscharf bleiben die gebotenen Erklärungen und Konzepte. Manche Begrifflichkeiten (das Buch lag mir in der deutschen Übersetzung vor) bleiben – trotz der Definitionsversuche – unklar (z.B. Ebene-2-Beziehungen und Ebene-3-Beziehungen; der mehrfach verwendete Begriff „Resilienz“ wird nicht definiert).

Erkenntnisse leiten sie aus (größtenteils eigenen) Erfahrungen ab und postulieren eine generelle Übertragbarkeit, ohne (wissenschaftliche) Belege zu liefern.

Die „Maßnahmenpläne“ am Ende eines jeden Kapitels enthalten keine Maßnahmen sondern bieten lediglich eine Zusammenfassung des vorher beschriebenen. Bis auf den Übungsteil zur „Personisierung“ enthält das Buch wenig konkrete Handlungsvorschläge zur Umsetzung der geforderten Beziehungstransformation.

Fragwürdig ist, ob der gewählte Fokus auf die Beziehungsqualität tatsächlich für den Erfolg und das langfristige Überleben von Organisationen verantwortlich gemacht werden kann. Umfassendere Modelle, die neben Führung weitere wichtige Merkmale von Organisationen betrachten wie z.B. deren Strukturen, die Prozesse, die Organisationskultur oder auch die Kundenbeziehungen liefern mehr und differenziertere Erklärungs- und Handlungsansätze.

Plädoyer für eine menschlichere Arbeitswelt

Das Buch ist – wie die Autoren selbst schreiben – die Essenz dessen, was sie im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeiten erlebt und erforscht haben. Es ist ein eindringliches Plädoyer für eine menschlichere Arbeitswelt, mit dem sie nicht nur die dringend nötige Humanisierung in hierarchischen Organisationen begründen, sondern gleichzeitig auch eine Perspektive eröffnen, wie Organisationen genau dadurch zukunftsfähig werden können.


Zum Nach- und Weiterlesen:
* Schein, Edgar H. und Schein, Peter A. (2019). Humble Leadership – Erfolgreich führen mit Beziehung, Offenheit und Vertrauen; EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Gevelsberg